Mariyam al-Aadhra Kirche, Sulaymaniya-Iraq, 29. Mai 2012
Houla
Letzten Freitag und Samstag habe ich rat- und fassungslos den Nachrichten zugehört. Ich habe mich gefragt, ob das dasselbe Land ist, das ich seit 19 Jahren kenne, in dem ich mehr als 10 Jahre lang gelebt, und erst vor einigen Monaten verlassen habe um eine neue Aufgabe hier im kurdischen Iraq zu erfüllen.
Syrien ist doch das Land mit den freundlichen Menschen, die gerne miteinander einen Tee oder Maté trinken, die, selber religiös, die Religion ihrer Nachbarn respektierten, deren Sprache voll mit kleinen Freundlichkeiten ist. Wohin sind diese Menschen verschwunden? Ist es möglich, dass innerhalb von einem Jahr all das, was so tief verwurzelt schien, auf einmal verschwindet? Oder sind die Menschen, die ich kannte, weggegangen, und haben einem anderen unbekannten Volk Platz gemacht?
Doch jetzt ist es höchste Zeit, dass die "alten" Syrer wieder zurückkommen; dass die Menschen von Homs, die den ganzen Mittleren Osten mit ihren Anekdoten über sich selbst zum Lachen gebracht haben, diesen Witz für ihre Stadt und ihr Land einsetzen; dass die Menschen aus Aleppo ihr Fachwissen und ihr Talent im Verhandeln zur Geltung bringen; dass die Damaszener mit ihrer Kultur und toleranten Lebensweise Brücken schlagen.
Eigentlich ist die Zeit, still beiseite zustehen und zu beobachten, schon längst abgelaufen. Es war aber verständlich, dass man angesichts der sich ändernden Situation perplex war. Jetzt aber, nach dem Massaker von Houla, ist dies nicht mehr möglich.
Nein, ich bin keiner, der rührig vorschlägt, wie die neue Gesellschaft von Syrien aussehen soll. Es gibt da schon zu viele, die alle möglichen oder unmöglichen Modelle vorschlagen. Ich bin an etwas anderem interessiert: die Identität des syrischen Volkes.
Wer immer nach Syrien reiste, hat sie erfahren: die tief verwurzelte Gastfreundschaft, die alle Teile der Bevölkerung pflegen. Es gibt da keinen Unterschied zwischen arm und reich, Christ oder Muslim, Shia oder Sunni, Druse oder Atheisten... alle geniessen es, Gäste zu haben.
Ist es möglich, dass ein Volk, dass sich so um den Fremden, den Anderen kümmert, sich selbst zerfleischt?
Ich bete zu Gott dem Allmächtigen, dass die Märtyrer-Kinder von Houla endlich die Augen der ganzen Nation öffnen, wohin die Gewalt führt. Ist es nicht offensichtlich, dass der Widerstand/Schutz in der einen oder anderen Weise den Tod vieler anderen unschuldiger Kinder fordern wird? Oder dass der Kampf gegen "bewaffnete Banden" immer wieder die falschen treffen wird?
Syrien ist nicht speziell. Tausende von Bürgerkriegen sind in der Geschichte ausgefochten worden und immer mit exakt dem gleichen Schema. Die Politiker können bis zu einem bestimmten Punkt helfen; wenn sie aber nicht den Willen der Bevölkerung spüren, die Krise gewaltfrei zu lösen, werden sie sich nicht anstrengen.
Habt Ihr Syrer Euch mal überlegt, was das heisst, die Krise gewaltsam zu beenden? Seid Ihr Mütter bereit, Eure Söhne und Töchter zu Tausenden zu begraben? Die Väter werden dann nämlich schon in irgendeinem Graben liegen. Seid ihr Euch dessen bewusst, dass Eure Kinder nicht mehr in die Schule gehen und kein Handwerk mehr erlernen können während des Krieges, der sich im ganzen Land breitmacht?
Ihr kennt Euch. Könnt Ihr Mütter, dann, wenn eines Eurer Kinder sterbend in Eurem Schoss liegt, Frieden schliessen mit der Mutter seines Mörders, um die Kinder eures Quartiers zu retten? Vielleicht ist es besser, schon jetzt die Mütter der bisherigen Opfer zu trösten und um ihre Verzeihung zu bitten, und nach Frieden zu suchen.
Wenn der Tod der Kinder und Zivilisten von Houla einen Sinn haben soll, dann ist jetzt für Euch der Moment einer tiefgreifenden Entscheidung für das zukünftige Syrien gekommen. Dieses neue Syrien kann nicht mit Waffen erkämpft werden, dafür ist es zu komplex. Die Minderheiten haben ihre Ängste und brauchen ein ehrliches Versprechen, speziell von ihren Nachbarn.
Wir dürfen nicht glauben, dass wir den obskuren Mächten von aussen ausgeliefert sind. Wenn wir klar und ehrlich untereinander sind, dann wird dieses Licht die schattenhaften Interessen von innen wie von aussen verjagen.
Vom ersten Tag des sogenannten arabischen Frühlings an betet meine Gemeinschaft für Syrien, und wir laden alle ein, wo sie auch immer sind, dies mit uns zu tun. Und mit der Fürbitte der Märtyrer von Houla bitten wir den Herrn der Schöpfung, die Herzen aller Syrer und alle Menschen guten Willens zu berühren.
Bruder Jens Petzold