Weihnachtsbrief aus dem irakischen Kurdistan

Weihnachtsbrief aus dem irakischen Kurdistan

Kirkuk, 20. Dezember 2011

Liebe Freunde,

Vielen Dank noch einmal für den herzlichen Empfang durch die schweizerischen und italienischen Mitglieder der Vereine der Freunde unserer monastischen Gemeinschaft. Es hat mir gut getan, Eure Nähe zu spüren. Danke auch für die vielen Beweise der Solidarität, die Ihr uns in diesen aufgewühlten Zeiten im Nahen Ostens gegeben habt. Die Statistiken über die Nutzung unserer Internetseite und unsere "Inbox" sagen uns, dass Ihr unser Wirken aufmerksam verfolgt. Danke! Der Nahe Osten, und speziell Syrien, braucht viel Fürbitte und Solidarität. Wir beobachten eine stetige Steigerung der Gewalt, während wir nicht aufgeben, mit all unserer Energie zur Gewaltlosigkeit und zur Versöhnung aufzurufen.

Wir wissen, dass Versöhnung schmerzhaft ist, weil sie die Erkenntnis der eigenen Schuld beinhaltet, ob nun die Schuld durch Taten oder durch Unterlassungen. Mehr noch: sie verlangt die Bescheidenheit, als erster um Verzeihung zu bitten. Denn Versöhnung findet nicht statt, indem man sagt: "Ich verzeihe Dir", sondern wenn man im Gegenteil um Verzeihung bittet. Nur so können wir hoffen, dass sich das Herz des Andern öffnet.

La tomba del profeta Daniele

Wie Ihr wisst, bin ich seit ca. zwei Monaten im Irak, in der Region Kurdistan, um genau zu sein. Während ich diesen Brief schreibe, befinde ich mich vor dem Grab des Propheten Daniel in der Moschee der Festung von Kirkuk. Hier ist mir aufgefallen, dass ein grosser Teil unserer Bibel im Gebiet des heutigen Irak geschrieben wurde. Oft sind wir uns nicht bewusst, wenn wir Daniel, Ezechiel, Jeremia oder Jesaia lesen, dass es gerade hier im Exil war, wo die Hebräer eine Spiritualität entwickelten, die fähig war, auf politische Macht zu verzichten. Sie machten hier die bittere Erfahrung, einer Nation dienen zu müssen, ohne jede Hoffnung, diese eines Tages erobern zu können. Diese grundlegende Erfahrung, überliefert durch die Schriften und die Tradition, half Jahrhunderte später den Christen, ihren Glauben im Römischen Reich durch die Verfolgungen hindurch zu leben und zu verbreiten. Das gleiche gilt auch für die chaldäische Kirche. Sie hat durch die Jahrhunderte hindurch eine Berufung des Dienstes unter vielen Völkern und Nationen wahrgenommen, ohne jemals einen eigenen "christlichen" Staat zu haben.

Es ist eine Spiritualität, die sich im einundzwanzigsten Jahrhundert wieder zu entdecken lohnt. Sicher müssen die Entwicklungen und Errungenschaften auf menschlichem, sozialem, politischem und religiösem Gebiet über die Generationen hinweg berücksichtigt werden. Sicher muss sich der Dienst der Christen heute den Anforderungen der Menschenrechte, der Demokratie, des konstitutionellen Staates, der Umweltprobleme usw. bewusst sein. Dies liegt aber absolut nicht im Widerspruch zur Spiritualität des Exils, der Minderheit und des Martyriums.

In der Stadt Kirkuk gibt es eine Kirche - die Rote Kirchein der zur Zeit des Persischen Reiches dreitausend Christen umgebracht wurden. Während der Exekutionen sah der persische Kommandant auf einmal den Himmel offen, sah die Seelen der Getöteten aufsteigen und sah, wie sie von Jesus Christus empfangen wurden. Der Verfolger konvertierte und wurde später selbst zum Märtyrer. Wie viel Blut für ein verlorenes Schaf! Ich denke, dass gerade diese Großzügigkeit, Sicherheit und Schutz der Vielen für den Einen oder für die eine Gruppe aufs Spiel zu setzen, ein unverzichtbarer Bestandteil einer an den ersten christlichen Gemeinschaften orientierten Minderheits-Spiritualität ist. Eine solche Spiritualität kann die Muslime hier im Nahen Osten von ihrer Verantwortung zum Schutze "ihrer" christlichen Gemeinschaften überzeugen, stolz mit ihnen zusammen zu leben. Eine Kirche, die diesen Wohlgeruch des Evangeliums wieder findet, könnte in einer Zeit, in der das Christentum im Westen eine Minderheitsbewegung geworden ist und sich ein tiefes Misstrauen gegen die christliche Gemeinschaft und ihre Institutionen verbreitet hat, von neuem die westliche Gesellschaft von der Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit der Jünger Christi überzeugen.

Il vescovo Luis Sako

Vor fast einem Jahr haben Hochwürden Louis Sako, Bischof von Kirkuk, zusammen mit unserem Freund, dem maronitischen Mönch Pater Marun Atallah eine Email an Pater Paolo geschrieben. Sie baten ihn, nach Kurdistan zu kommen und ein Kloster der monastischen Konföderation al-Khalil zu gründen. Nach einem kurzen Briefwechsel wurde das Datum eines ersten Besuches gleich nach Ostern 2011 festgelegt. Wie ihr wisst, entdeckte Pater Paolo gerade dadurch, dass seine Aufenthaltsbewilligung von der syrischen Regierung in Frage gestellt wurde, wodurch er bis heute nicht frei aus und einreisen kann. Wir wollten jedoch die Gelegenheit nicht verpassen und hatten uns deshalb entschlossen, drei (damalige) Postulanten (Fabiana, Frederike und Luis), eine Novizin (Carol) und einen Mönch (mich) nach Kirkuk zu senden.

Auf unserer Reise hatten wir die Gelegenheit, die türkische Stadt Antakya Halt zu machen (das antike Antiochia). Dort haben wir Barbara besucht, eine konsekrierte Laiin mit tiefer Verbindung zur Gemeinschaft von Taizé. Sie unterhält dort ein Gästehaus im Geiste des interreligösen Friedens. Mit ihr fühlen wir uns spirituell sehr verbunden.

Im Iraq besuchten wir Sulaymaniya, Kirkuk, Qaraqosh sowie die Klöster Mar Bahnam, Mar Matta und Rabban Hormoz. Überall konnten wir großzügige und herzliche Gastfreundschaft genießen.

Schon beim ersten Treffen unterstrich Bischof Sako seine Hoffnung, dass unsere Gemeinschaft seiner Kirche helfen wird, sich der Frage des Islams in seiner Tiefe zu stellen. Er würde gerne in seiner Diözese einen Ort des Gebetes und für Einkehrtage sehen, der offen für alle ist. Einen Ort, der auch dem Ausüben des interreligiösen Dialoges dient.

Cortile

Er schlug vor, dass wir uns in der alten Kirchgemeinde der Jungfrau Maria in der Altstadt von Sulaymaniya einrichten. In der Nachbarschaft leben heute nur noch sehr wenige Christen.

Sulaymaniya ist eine moderne Stadt. Von der Altstadt ist nicht viel übrig geblieben, doch die Kirche ist sehr anheimelnd und ihr Innenhof ist eine kleine Oase der Stille in einer lebendigen Stadt. Wir fühlten gleich, dass sie für unsere Gemeinschaft geeignet sein könnte.

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Von unserer Reise zurückgekommen, berichteten wir unserer Gemeinschaft in Deir Mar Musa umfassend davon. Aus unserem darauf folgenden eingehenden Austausch entwickelte sich die Entscheidung, eine monastische Gemeinschaft im Rahmen unserer Konföderation al-Khalil zu gründen. Nach sorgfältigem Abwägen wurde ich für ein "Pilot-Projekt" ausgewählt, um die Situation eingehender zu prüfen und ein Quartier für drei oder vier von uns vorzubereiten. Am 24. Oktober reiste ich dorthin.

Bischof Sako hat mich wie ein Vater in die Familie seiner Eparchie (Name einer Diözese im Orient) aufgenommen. Die Eparchie von Kirkuk ist klein (c.a. 20'000 Christen), sie hat fünf Priester (den Bischof eingeschlossen), von denen drei verheiratet sind. Zu erwähnen ist weiterhin, dass es hier eine lebendige Tradition des dauernden Diakonates gibt. Die Diakone nehmen nicht nur in der Liturgie sondern auch im Leben der Eparchie und der Kirchgemeinden eine wichtige Rolle wahr.

Mir wurde klar, dass der Irak ethnisch und vor allem sprachlich sehr viel weniger homogen ist als Syrien. Die Unterschiede werden hier stärker erlebt. Interessant ist, dass die chaldäische Kirche keine einheitliche ethnische Identität besitzt und sich dessen auch bewusst ist. In ihrem Schoß findet sich eine große menschliche Vielfalt: Turkmenen, Araber, Assyrer, Kurden. Eben weil sie mit jeder ethnisch-kulturellen Gemeinschaft Iraks verwandt ist, eignet sie sich vorzüglich als Ort des Dialoges. Die Christen beispielsweise, die ursprünglich aus Kirkuk stammen, sprechen Turkmenisch (ein Dialekt des Türkischen), diejenigen aus Sulaymaniya jedoch Kurdisch. Viele der Christen sprechen noch das Soreth (Dialekt des Chaldäischen). Religiöse Menschen in Sulaymaniya müssen Kurdisch lernen, wenn sie am öffentlichen Leben teilnehmen wollen. Arabisch wird immer wichtig für das Reisen in- und außerhalb Iraks sein und um mit den Christen aus Bagdad und anderen Regionen Iraks zu kommunizieren. Als liturgische Sprache des Islam ist und bleibt Arabisch ein grundlegendes Element unserer Berufung "Kirche des Islams" zu sein.

Kurz vor Weihnachten sollte eine Wohnung gegenüber der Kirche frei werden. Bis Februar könnte ich sozusagen als Einsiedler dort wohnen und mich damit beschäftigen, das Haus so zu organisieren, dass drei oder vier von uns dort leben können. In den ersten Monaten werden das wohl nur Mönche sein, doch ich denke schon daran, wie wir auch Quartier für unsere Nonnen machen können.

Es gibt viel Interesse an einem Ort des Gebetes. Deshalb ist es sehr wichtig, dass unsere Nonnen an Einkehrtagen bei der Betreuung von Frauen helfen und zusammen mit den Mönchen nachbarschaftliche Verbindungen im Quartier aufbauen. Außerdem wäre es eine seltsame Gruppe unserer monastischen Gemeinschaft, wenn nicht beide Geschlechter vertreten wären...

Der Bischof hat in der Ausstattung der Kirche einen unserer Gemeinschaft ähnlichen Geschmack. Vor ein paar Tagen hat er mich überrascht, als er mir sagte, dass es wohl eine gute Idee wäre, die Kirchenbänke zu entfernen und die Kirche mit Teppichen auszulegen. Das wäre wie die Kapelle in Deir Mar Musa! Ich hatte mir zugegebener Weise schon vorher überlegt, ob ich nicht Schritt für Schritt die Bänke entfernen sollte: in einer Woche zwei Reihen, dann in der nächste Woche nochmals zwei... Wir haben im Kirchgebäude einen Saal und zwei Salons zur Verfügung. Am Anfang wird die Aufnahme von Gästen, die ein paar Tage bei uns bleiben wollen, ein Problem sein. Doch wir wissen auch, dass sich im Orient für die Gastfreundschaft immer eine Lösung findet.

Wie ist dieses Abenteuer zu finanzieren? Die Gemeinschaft hat mir Euere Spenden, die ich während der Reise im Herbst erhalten habe, zusammen mit einem substanziellen Beitrag von Deir Mar Musa zur Verfügung gestellt. Hw. Louis Sako ist sehr grosszügig, bis jetzt hat er mich fasst nichts ausgeben lassen. Er schlägt vor, dass ein oder zwei von uns sich eine Arbeit suchen. Es gibt dafür verschiedene Möglichkeiten: z. B. in einer von einem Nonnen-Orden betriebene Schule, in welcher in Englisch unterrichtet wird, oder aber in einer staatlichen Stelle für Kultur. In Sulaymaniya befinden sich einige humanitäre Organisationen, welche nicht selten im Feld unserer Berufung arbeiten. Sicher ist, dass für uns in der ersten Zeit das intensive Studium des Kurdischen Vorrang hat. Sicher werden sich unter anderem mit Kurdisch- und Arabischkenntnissen die Arbeitsmöglichkeiten vervielfältigen.

Liebe Freunde, ich danke Euch für Eure Gebete, speziell denjenigen für die Wiederversöhnung der syrischen Gesellschaft. Auch der Irak hat Fürbitte nötig, vor allem heute nach dem Rückzug der amerikanischen Soldaten. Noch ist nicht klar, ob der Prozess der nationalen Versöhnung weitergeführt wird oder unter einer neuen Welle der Gewalt erstickt. Sogar im bis dahin sehr stabilen und sicheren Nord-IrakKurdistansind die Zeichen gemischt. Es gibt viel Grund zur Hoffnung aber auch dunkle Schatten. Die einheimischen Christen können in dieser Situation eine wichtige Rolle für die Wiederversöhnung der einzelnen Teile der irakischen Gesellschaft spielen. Hw. Sako hat dies sehr wohl verstanden und bemüht sich, die Repräsentanten aller Religionen, Konfessionen und ethnischen Gruppen zu besuchen und sie zum Dialog untereinander einzuladen.

Die nahe Zukunft Syriens zeichnet sich leider um einiges dunkler ab. Vieles deutet darauf hin, dass es sich am Anfang eines Bürgerkrieges befindet. Trotzdem habe ich Hoffnung in die Fähigkeit des Dialoges - eine wertvolle wiederzuentdeckende Gabe - des syrischen Volkes.

Auch wir von der Gemeinschaft al-Khalil beten für Euch alle und jeden einzelnen.

Wirunsere ganze Gemeinschaftwünschen Euch Fröhliche Weihnachten und guten Rutsch ins neue Jahr.

Bruder Jens


P.S. Viele von Euch wissen sicher schon, dass die Ausweisung Pater Paolos vorerst nicht ausgeführt wurde. Diese Entscheidung der syrischen Regierung ist verbunden mit der Bedingung, sich aus der politischen Sphäre herauszuhalten. Für uns alle ist es im Moment wichtiger, in Syrien präsent zu bleiben.

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